- Folge – 13.06.2020
Liebe Mitglieder*innen, liebe Freunde des KULTURKREISES SPRINGE,
wir senden Ihnen heute den KULTURtipp Lesen zum Sonntag.
Fühlen Sie sich eingeschränkt oder gar entmündigt durch Maßnahmen, die uns alle möglichst gut durch die Pandemie bringen sollen? Ich hoffe nicht! Und ich hoffe, Sie sind so gesund wie möglich geblieben!
Während all der Einschränkungen, die uns auferlegt wurden, kam mir ein Buch in den Sinn, das ich im letzten Jahr verschlungen habe: „Vox“ von Christina Dalcher aus dem Jahr 2018. Der Debütroman der Amerikanerin hat auf Grund tatsächlich vorhandener literarischer bzw. inhaltlicher Mängel eher ablehnende Kritiken erhalten – ich empfehle es Ihnen dennoch. Sie können sich ja dann Ihr eigenes Urteil bilden. Der Klappentext wirbt natürlich mit einer eher positiven Rezension: „Ein spannender, entschlossen emotionaler Thriller mit klarem Pinselstrich. Eine Parabel darauf, wie fragil Demokratie ist und was sie ausmacht.“
Jean, die Protagonistin des Buches, muss wie alle Frauen und Mädchen mit einer ungeheuren Einschränkung leben: eine theokratische frauenfeindliche Regierung hat von heute auf morgen verfügt, dass Mädchen und Frauen nur noch hundert Wörter pro Tag sprechen dürfen. Um das überprüfen zu können, wird ihnen ein Armband installiert, das die Wörter zählt und bei Überschreitung Elektroschocks in sich steigernder Stärke verabreicht. Der Verlust der Sprach- und Mitsprachefähigkeit führt dazu, dass die Frauen all ihrer Rechte beraubt werden. Jean ist Neurolinguistin und erforscht seit Jahren eine seltene Form des Sprachverlusts. Ihre Kenntnis von der existentiellen Bedeutung von Sprache für die individuelle und soziale Entwicklung des Menschen erhöht ihren Leidensdruck natürlich enorm – bietet ihr aber im Laufe des Romans eine unerwartete Chance.
Mehr kann ich natürlich nicht verraten. Ich bin jedenfalls heilfroh über all die Wörter, die mir uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Und über die Möglichkeit, nach meiner eigenen Entscheidung von ihnen Gebrauch machen zu können.
Mit herzlichen Grüßen
Karin Müller-Rothe