86. Folge – 25.12.2021
Liebe Mitglieder, liebe Freundinnen und Freunde des KULTURKREISES SPRINGE,
schauen Sie bei der Suche nach einer passenden Lektüre für die Mußetage zwischen den Jahren nicht nur in die Auslage der Buchhandlung oder in die Bestsellerliste des SPIEGELS, sondern auch mal wieder in Ihr Bücherregal. Lesen Sie – mal wieder – „Klassiker“!
Ich fand auf diese Anregung einer Freundin hin „Fabian“ von Erich Kästner aus dem Jahr 1931, noch ungelesen in der Gesamtausgabe der Büchergilde.
Hier ein paar Kostproben:
Wir wollen, dass es sich ändert, aber wir wollen nicht, dass wir uns ändern. Wozu sind die anderen da?‘ fragt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig ist.
Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung anzuschauen.
Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fährt der Zug, das wusste ich. Aber wohin er fuhr und was aus mir werden sollte, das wusste kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!
Wir leben in einer großen Zeit, und sie wird jeden Tag größer.
Kästners „Geschichte eines Moralisten“ galt den Nationalsozialisten als entartet; auf Grund dieses Romans wurden die Werke Erich Kästners anlässlich der Bücherverbrennung 1933 in Deutschland verbrannt. Bereits 1931 hatte Kästner in einem Artikel für die Weltbühne die Konzeption seines Romans erläutert:
Der Zustand lebt mehr denn je vom Zufall. Wovon, so fragte sich der Autor, soll die Darstellung des Zustands leben? Jeder Tag ist für den, der ihn erlebt, eine Reise im verkehrten Zug ans falsche Ziel. Weil es viele Möglichkeiten gibt, und nur eine davon kann Tatsache wer-den, verwirklicht sich das Unwahrscheinliche. Die Vernunft ging ins Exil. Der verworrene Zustand und der ratlose Mensch blieben übrig. Wie ließ sich beides am treffendsten auf den Leser übertragen? Wie konnte es, wenn überhaupt, gelingen, den Leser so zu mobilisieren, dass er nach der Lektüre womöglich aufsprang und auf den Tisch schlug und ausrief: Dieser Zustand muss anders werden!
Das Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen Aufbau und keine sinngemäß verteilten Akzente und keinen befriedigenden Schluss. Man vermutet richtig, ob man es nun für richtig hält oder nicht: Es war so die Absicht!
Keine einfache Lektüre, aber die hat man ja bei „Klassikern“ nie. Zur Erholung dann ins Kino – natürlich zu Fabian oder Der Gang vor die Hunde von Dominik Graf: da treffen wir uns dann!
In herzlicher Verbundenheit und mit allen guten Wünschen für ein lichtvolles Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins Neue Jahr
Ihre Karin Müller-Rothe