Liebe Mitglieder, liebe Freundinnen und Freunde des Kulturkreises,
waren Sie für Italien oder für Großbritannien? Waren Sie betrübt oder erleichtert - oder war es Ihnen sogar gleichgültig -, als Deutschland den Anschluss bei der EM 2021 verpasst hatte? Oder verweigern Sie gar das Fußballgucken, weil Sie nicht den hochbezahlten Millionären bei der Arbeit zusehen wollen? Ehrlich gesagt, reicht mir das Elfmeterschießen am Ende einer Partie, das finde ich dann richtig spannend, und ich leide vor dem Moment das Abstoßes sowohl mit dem Schützen mit als auch mit dem Torhüter, unabhängig von der Nation der beiden.
Egal wie Sie zum Fußball stehen: „Die Angst des Tormanns dient als systemstabili-sierendes Moment“. Diesen Satz von Horst-Dieter Ebert fand ich in seiner Spiegelre-zension (22/1970) zu Peter Handkes damaliger Neuerscheinung „Die Angst des Tor-manns beim Elfmeter“, an die ich immer denken muss, wenn das typische Geräusch einer Fußballübertragung durch die Wohnzimmertür dringt. Dabei geht es in der Er-zählung so wenig um Fußball, dass „bestes Torwart von Welt«, Münchens Petar »Radi« Radenkovic, es gar nicht mag: »Hab ich gelesen erste Seite -- war da Hoff-nung. Hab ich gelesen zweite Seite -- hm. Hab ich gelesen dritte Seite --: ist kein ge-wöhnliches Buch. Ist schade für Zeit, bitte särr.« Ein Buch für die Branche ist es also wohl kaum. Viele kluge Leute haben sich in den letzten 50 Jahren viele kluge Ge-danken über diesen alptraumartigen, frostigen Text gemacht, der so beginnt:
Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Torwart gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, dass er entlassen sei. Jeden-falls legte Bloch die Tatsache, dass bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von seiner Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.
Muten Sie sich doch diesen Text als Nachklapp zur überstandenen EM einmal zu. Fußball kommt ja nicht viel vor, und über systemstabilisierende Momente nachzu-denken kann immer hilfreich sein – zumal jetzt, in Wahlkampfzeiten.
Eine erbauliche Lektüre wünscht Ihnen herzlichst
Karin Müller-Rothe