Springe - Die Stadt am Deister

24. Folge – 12.09.2020

KULTURtipp Lesen: Regina Scheer: „Gott wohnt im Wedding“ (2019)

Als Nichtberlinerin und Musikstudierte assoziiere ich beim Nomen „Wedding“ gleich noch das färbende Adjektiv „roter“ und höre die Stimme von Ernst Busch: „Roter Wedding! Grüßt euch, Genossen! Haltet die Fäuste bereit!“
Die Autorin Regina Scheer dagegen, 1950 in Ostberlin geboren, freiberufliche Publi-zistin, Historikerin und Herausgeberin, wohnt im Wedding und verfügt über profunde Kenntnis des Bezirks und seiner Geschichte, die natürlich weit über das Arbeiterlied hinausgeht. Die Liedzeile „… wir sind durch die Not und den Hunger vereint“ steht aber im Hintergrund quasi als Parole auf einem Banner: ein heruntergekommenes Mietshaus ist der Schauplatz für eine deutsch-jüdische Tragödie, die in der Nazizeit ihren Anfang nahm und in der Gegenwart ein berührendes Ende findet; für die jahr-hundertelange Verfolgung der Sinti und Roma, die durch die unmenschliche Situation gegenwärtiger – nicht nur rumänischer – Wanderarbeiter greifbar wird; und für die allseits in Großstädten anzutreffende Gentrifizierung, der auch das alte Haus und seine derzeitigen Bewohner zum Opfer fallen werden.
Das ist ein bisschen viel Inhalt, meinen Sie? Ja, das ist es, aber Regina Scheer verbin-det in einer Mischung aus historischem Wissen und Lust am eigenen Fabulieren die Lebenslinien ihrer Personen so miteinander, dass Zufallsbegegnungen in der Gegen-wart ihren tieferen Sinn erhalten durch Erfahrungen und Geschehnisse aus der Ver-gangenheit – deren Zeuge das alte Haus ist.
Ich wette, dass Sie nach der Lektüre einen Ohrwurm haben…
Es grüßt Sie herzlichst
Karin Müller-Rothe